PARIS, 4. Februar. Alfred Sirven hatte sich vor seiner Flucht als einen Mann beschrieben, der zuviel weiß. "Ich könnte die Republik zwanzigmal in die Luft sprengen", sagte er, bevor er vor drei Jahren untertauchte. Jetzt hat der einst mächtige Manager im Staatsunternehmen Elf Aquitaine die ersten Nächte im Gefängnis verbracht. Frankreich wartet mit Spannung auf die Rückkehr des 74 Jahre alten Mannes. Wird er Licht in die dunklen Machenschaften des staatlichen Ölkonzerns bringen, der heute im Unternehmen Total-Elf-Fina aufgegangen ist?
Als rechte Hand des Elf-Präsidenten Loik Le Floch-Prigent waltete Alfred Sirven von 1989 bis 1993 über die Millionenbeträge der sogenannten schwarzen Kassen des Ölkonzerns. An den traditionellen Strukturen des Staatsunternehmen vorbei erfüllte Sirven seine Missionen. Offiziell trug er den Titel "Direktor für Allgemeine Angelegenheiten". Zu den "affaires générales" zählte für Sirven so ziemlich alles: Mittlerdienste für das Unternehmen Thomson vor dem Verkauf von Fregatten an Taiwan oder der Abschluß von Öl-Verträgen in Venezuela und in Usbekistan. Auch beim Kauf der Minol-Tankstellenkette und der Raffinerie in Leuna durch Elf soll Sirven eine wichtige Rolle gespielt haben. "Allein Sirven hatte den Überblick über die unterschiedlichen Kommissionszahlungen und ihre Endempfänger", sagte der frühere Direktor für das Afrika-Geschäft von Elf, André Tarallo, vor Gericht.
Seit dem 22. Januar wird im Pariser Justizpalast gegen den Angeklagten Alfred Sirven - in Abwesenheit - verhandelt. Die überraschende Festnahme des Flüchtigen auf den Philippinen dürfte dem Prozeß, sollte er nicht vertagt werden, eine neue Wendung geben. Bislang hatten sich die Angeklagten, der frühere Außenminister Dumas, seine Geliebte Christine Deviers-Joncour sowie der ehemalige Elf-Präsident Le Floch-Prigent, damit verteidigt, Alfred Sirven sei der Hauptverantwortliche, der die Veruntreuung von öffentlichen Geldern - das Geld aus den Elf-Kassen - organisiert habe. Daß der "große Abwesende" in den Gerichtssaal kommen könnte, damit hatte niemand ernsthaft gerechnet. Zum Prozeßauftakt hatte der frühere Außenminister Dumas scherzhaft zur Richterin gesagt, er hoffe, er werde die Festnahme Sirvens noch vor seinem Tod erleben.
In Frankreich wird darüber spekuliert, ob Sirven die philippinische Polizei bewußt auf seine Fährte gesetzt hat, um sich vor dem Gericht in seiner Heimat verteidigen zu können. Die Umstände seiner Flucht hatten bislang den Eindruck erweckt, der Elf-Mann stehe unter dem Schutz von einflußreichen Leuten, die an seiner Rückkehr nach Frankreich kein Interesse hatten. So hatte Sirven offenbar keine Schwierigkeiten, an große Mengen Geld zu kommen. Die Wochenzeitschrift "Paris-Match" veröffentlichte im Sommer 1999 als erste Fotos von Sirven, die ihn in seinen Luxusvillen mit dem Familienclan seiner philippinischen Lebensgefährtin Vilma Medina zeigten. Die französische Kriminalpolizei zeigte sich unterdessen außerstande, Sirven auf die Spur zu kommen. Journalisten fanden in der Abfalltonne eines vornehmen Vororts von Manila Flaschen des Lieblingsweins des Flüchtigen sowie eine leere Packung der von ihm bevorzugten kubanischen Zigarren - Alfred war jedoch schon verschwunden.
Im März 2000 ließ sich Sirven in einer Privatklinik in Quezon City wegen seines Krebsleidens operieren. Doch wieder entwischte er seinen Fahndern. Sirven half dabei der mit seinem Foto versehene, von der Pariser Präfektur ausgestellte Paß - mit dem Namen eines nicht als verstorben gemeldeten Mannes, der lange Jahre für den Söldnerchef Bob Denard gearbeitet hatte.
Sirven verdankte seinen beruflichen Aufstieg dem früheren Elf-Präsidenten Le Floch-Prigent, auch "Pink Floch" genannt. 1927 als Sohn eines Druckers der "Dpche du Midi" in Toulouse geboren, hatte Sirven als junger Mann in der Rsistance gekämpft. Er verpflichtete sich bei den UN-Bodentruppen in Korea, wurde viermal verletzt und in Frankreich mit dem "Croix de guerre" ausgezeichnet. Im April 1954 fiel Sirven zum ersten Mal als Gesetzesbrecher auf: Zusammen mit einem Kameraden aus seinem Regiment überfiel er eine Bank in Japan.
Zurück in Frankreich, führte der Bankräuber wieder ein geregeltes Leben. Er studierte Jura, schloß das Studium mit einem Diplom in öffentlichem Recht ab und erhielt eine erste Anstellung beim Ölkonzern Mobil Oil. Später wechselte er als Direktor der Personalabteilung zum Unternehmen Rhône-Poulenc (heute Aventis). Sein Vorgesetzter hieß Le Floch-Prigent. Sirven entwickelte sich zu einer Art "Mann für alles" von Pink Floch. 1986, nach dem Wechsel der französischen Regierung, wurde der Rh?ne-Poulenc-Präsident gefeuert. Le Floch vertraute auf Sirven, um einen neuen Posten zu finden. "Er war für Le Floch ein Impresario. Er hat seine gesamten Verbindungen aktiviert, um seine Rückkehr vorzubereiten. Auch in seinem eigenen Interesse, aber auch aus einer aufrichtigen Bewunderung heraus", sagte ein enger Mitarbeiter Sirvens. Vor der Wiederwahl Mitterrands 1988 nutzte Sirven seine Kontakte zu einflußreichen Sozialisten, um für Le Flochs Ernennung an die Spitze des Staatsunternehmen Elf zu werben. Im Rahmen dieser "Kampagne" organisierte Christine Deviers-Joncour, die Mätresse des Mitterrand-Vertrauten Dumas, ein Abendessen mit Dumas und Le Floch-Prigent.
Im Mai 1989 übernahm Le Floch die Leitung des Elf-Konzerns. Sirven, den er zuvor zum Trauzeugen bei seiner zweiten Hochzeit bestimmt hatte, zog mit in die Führungsetage im Elf-Turm im Büroviertel La Défense ein. Sirven machte sich die Dienste der Geliebten des Außenministers zunutze. "Elf, das ist ein großer Kochtopf. Wir werden unser kleines Gemüse darin kochen. Und du, du bekommst auch deinen goldenen Löffel", soll Sirven zu Christine Deviers-Joncour gesagt haben. Sirven nutzte das Elf-Geld auch, um sich ein Schloß nicht weit vom Loire-Fluß zu kaufen. Von seiner "Großzügigkeit" profitierten offenbar viele.
So soll den Untersuchungsrichtern eine Liste mit den Namen jener vorliegen, die Geld von Elf bekamen: vor allem Politiker von der Linken und aus dem rechtsbürgerlichen Lager, von deren Wohlwollen sich Sirven Vorteile versprach. So ließ er mit Geld der Schweizer Elf-Filiale das marode Blatt "Globe-Hebdo" finanzieren, das Mitterrand nahestand. Auch einem Jugendfreund Mitterrands half er finanziell weiter. Dem ältesten Sohn des Präsidenten, Jean-Christophe, soll er "Beschäftigungen" organisiert haben. Sirven nutzte auch die Kontakte, die er seiner Freimaurerloge verdankte. Das Elf-Geld setzte er sogar ein, als der Elf-Chef sich scheiden ließ. Le Flochs frühere Frau erhielt als "Abfindung" eine Luxuswohnung in London - bezahlt aus einer schwarzen Kasse von Elf.
Die französischen Untersuchungsrichter haben sich seit 1994 bemüht, sich durch das Dickicht der finanziellen Verbindungen zu kämpfen, das Sirven über Scheinunternehmen und Bankkonten in der Schweiz und in Luxemburg geschaffen hatte. Vielleicht zeigt sich der Häftling Sirven ja bereit, einen der größten Finanzskandale der Fünften Republik aufzuklären.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.02.2001, Nr. 30 / Seite 3