"Star Trek's 9/11": Die Enterprise auf den Spuren der Realpolitik

"Früher boten unsere Politiker uns Träume von einer besseren Welt. Heute versprechen sie, uns vor Alpträumen zu beschützen". Adam Curtis, The Power of Nightmares (BBC 2004)


Star Trek's 9/11: 7 Mio. Menschen sterben zwischen Florida und Venezuela.
"Star Trek's 9/11": 7 Mio. Menschen sterben zwischen Florida und Venezuela.
Der Auftakt der Xindi-Erzählung weist, wie von ENT-Produzent Brennan Braga angekündigt, auffällige Parallelen zu den Anschlägen des 11.09.2001 auf: Ein zunächst unbekannter Gegner greift die Erde mit einer Massenvernichtungswaffe an, die quer durch den amerikanischen Kontinent eine Schneise der Zerstörung hinterlässt. Sieben Millionen Menschen kommen bei diesem globalisierten 11.09. ums Leben. Ein ebenfalls unbekannter Akteur aus der Zukunft, im Fandom "Future-Guy" genannt, nimmt Kontakt mit der Crew der Enterprise auf. Er setzt Captain Archer darüber in Kenntnis, dass eine Spezies namens Xindi hinter dem Anschlag steckt. Ihr Motiv gründe sich auf die Annahme, dass die Menschheit in 400 Jahren den Heimatplaneten der Xindi zerstören werde. Die Xindi bewohnen ein weit entferntes System mitten in einer Region, die wegen unerforschter Raum-Zeit-Phänomene mit durchaus dramatischen Folgen "Delphische Ausdehnung" genannt wird. Die Xindi, so der Future-Guy, wollten aber noch mehr: Um zu verhindern, dass die Menschheit ihren Heimatplaneten zerstören kann, bauen sie eine Waffe, die in der Lage ist, die Erde zu vernichten. Das erste und bisher noch einzige Warp-5-Schiff der irdischen Sternenflotte begibt sich schließlich nach kurzem Zwischenstopp auf der Erde auf die schwierige Mission, die Xindi von ihrem Plan abzuhalten (vgl. Review Die Ausdehnung).

Neben dem globalisierten 9/11-Ereignis lassen sich im fiktionalen Paralleluniversum der dritten Staffel besonders in den Akteuren und ihrer Denk- und Handlungsweisen weitere weltpolitische Wiedererkennungsmerkmale ausmachen. So zeichnen sich etwa die Reptilianer, mit den Insektoiden an ihrer Seite, nicht allein durch charakterliche Eigenschaften als Hardliner im Rat der Xindi aus, die offensichtlich der irdischen Populärzoologie entnommen wurden. Sie sind die treibenden Kräfte hinter der prä-emptiven Strategie, den angeblichen Schurkenplaneten Erde und all seine Kolonien zu vernichten. Die gepanzerte Lebensform scheint sich allein aufs Kriegshandwerk zu verstehen und denkt auch so: Sie misstraut allen Abweichungen von ihrem paranoischen Wirklichkeitskonstrukt und handelt im Zweifel auch gegen demokratische Mehrheiten im Alleingang.

Unschwer ist in den Reptilianern eine Karikatur der neokonservativen Bush-Administration zu erkennen. Eine Karikatur, die sich aus der puren Arroganz und dem Hang zum Militarismus der realen Konstruktion "Bush-Regierung" speist. Auf Gottesanrufung und abendländische Befreierideologie wurde genauso verzichtet, wie auf Schlips und Kragen. Es handelt sich um eine Dekonstruktion mit dem Vorschlaghammer, die den Hass von US-Linken auf die Neocons nicht deutlicher wiedergeben könnte.

Reptilianer mit Schlips & Kragen: Vizepräsident Cheney, Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld.
Reptilianer mit Schlips & Kragen: Vizepräsident Cheney, Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld.
Die Zweifler im Xindi-Rat, bestehend aus den Repräsentanten der Faultiere, der Aquariaten und der Primaten, versammeln sich um den Erbauer der Massenvernichtungswaffe, den vormals zivilen Forscher Degra. Ihm macht es immer wieder merklich zu schaffen, einerseits das Überleben seiner Leute sicherzustellen, andererseits bereits den Tod von sieben Millionen Menschen auf dem Gewissen zu haben und schon bald die Zerstörung einer ganzen Welt verantworten zu müssen.

In dem zerrissenen Charakter Degra begegnen wir einer außergewöhnlichen Persönlichkeit aus der jüngeren US-Geschichte. Der Atomphysiker Robert Oppenheimer gilt als der Entwickler der Atombombe, die die US-Air Force 1945 über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki abwarf. Oppenheimer machte später eine 180-Gradwendung, stellte sich in den 50er Jahren - mitten in der McCarthy-Ära - gegen die Entwicklung der Wasserstoffbombe und sprach sich bereits damals für internationale Rüstungskontrolle aus. Mit seinem "Alter Ego" steht Degra damit für ein anderes Amerika, das in der Lage ist, die katastrophalen Folgen seines Handelns zumindest rückblickend zu erkennen und seine Weltsicht entsprechend zu korrigieren.

Anders als all seine Vorgänger/innen aus der Zukunft, kann Captain Jonathan Archer sich nicht auf den überzeugenden Charme von Verhandlungsangeboten verlassen, die sich auf die Ausstrahlung einer erfolgreichen wie mächtigen Friedensallianz wie der Föderation stützen kann. Die Enterprise NX-01 ist auf sich selbst gestellt und zudem mit relativ unterentwickelter Raumfahrt- und Waffentechnik unterwegs. Erschwerend kommt die besondere Unwirtlichkeit der delphischen Ausdehnung hinzu, die den Kriegszustand nicht auf Kontakte mit den Xindi beschränkt sondern permanent macht. Der Auftrag Archers ist so fantasielos wie eindeutig: "Schützen Sie die Erde vor einem zweiten, endgültigen Vernichtungsschlag, was immer es auch kosten möge!" Vor diesem Hintergrund versucht der gutwillige Humanist Archer alles in seiner Macht stehende, seine Mission auf die Ausschaltung der Massenvernichtungswaffe der Xindi zu konzentrieren ohne in einen interstellaren Rachefeldzug abzugleiten und gleichsam das Feindbild der Xindi von der skrupellosen Spezies zu bestätigen.

In Die Ladung gelingt es dem Captain dieser Maxime folge zu leisten. Er landet mit einem Außenteam auf einer Xindi-Kolonie auf der die Chemikalie Chemozid für den Bau des Planetenzerstörers hergestellt wird. Sie überfallen den Chefingenieur, das Xindi-Faultier Gralik, in dessen Haus. Im folgenden Verhör versichert er, nach Vorlage eines Beweises für den Xindi-Angriff auf die Erde, von den massenmörderischen Absichten seiner Kunden keine Ahnung gehabt zu haben und mit seiner Hände Arbeit auch künftig nicht an diesen beteiligt sein zu wollen. Nachdem Archer und Gralik eine gemeinsame Flucht vor Aufklärungsdrohnen der Reptilianer hinter sich haben, gelingt es ihnen, das Misstrauen hinter sich zu lassen und sich dem Wagnis des gegenseitigen Vertrauens und der Kooperation zu stellen. Gralik sabotiert die Chemozidladung für den Bau der Massenvernichtungswaffe, Archer heftet im Schatten eins Ablenkungsmanövers des Chemikers einen Peilsender an die Ladung.

Chemiker Gralik: 'Denken Sie daran, nicht alle Xindi sind ihre Feinde'.
Chemiker Gralik: "Denken Sie daran, nicht alle Xindi sind ihre Feinde".
Auch wenn Archer hier weiter auf seinen Auftrag fixiert bleibt, unterzieht er seinem absolutes Feindbild durch die Erfahrung eines ersten näheren Kontakts mit einem Xindi einer ersten Korrektur: Die Xindi bilden politisch keineswegs eine monolithische Einheit. Differenzen und Machtstrukturen werden sichtbar, ein kooperativer Sabotageakt tritt an die Stelle eines politisch sehr kurzsichtigen militärischen Vergeltungsschlages. Kurzum, ein ziviles, von Differenzierungen geprägtes Handeln gegen die militärische Bedrohung des Heimatplaneten wird möglich.

Archer gerät jedoch immer wieder in Situationen, die ihn mit einem ethischen Dilemma konfrontiert, das dem von Degra gar nicht so unähnlich ist: Für die Rettung der Erde sieht er sich nicht nur einmal dazu genötigt, gegen seine Überzeugungen zu handeln. Am dramatischsten in der Episode Anomalie in der Weltraumpiraten die Enterprise überfallen und Ausrüstung mitgehen lassen, ohne die die Rettungsmission schon bald scheitern muss. Archer verhört einen gefangenen Piraten über die Xindi, über die sie zu diesem Zeitpunkt so gut wie noch nichts wissen. Der Gefangene zieht den Sternenflottenoffizier als Neuling in der Ausdehnung damit auf, noch zu zivilisiert zu sein, um ihn mit Folter zum Reden zu zwingen. Das Verhör spitzt sich zu und gipfelt darin, dass Archer sein Gegenüber packt, in eine Luftschleuse wirft und mit der Dekompression beginnt. Er geht bis zum Äußersten um an die Informationen zu kommen indem er dem Gefangenen den Sauerstoff bis zu einem kritischen Punkt entzieht.

Februar 2002: Ein Gefangener wird von US-Soldaten im Camp X-Ray zum Verhör abgeführt.
Camp X-Ray: Ein Gefangener wird von US-Soldaten zum Verhör abgeführt.
Absolut harter Tobak: Jonathan Archer geht als erster Sternenflottencaptain in die Analen von Star Trek ein, der sich der Folter bedient. Ein Akt der Barbarei, der uns aus der bekannten Föderationszukunft nur aus der Opferperspektive bekannt war. Die Folge flimmerte übrigens Mitte September 2003 erstmals über die US-Mattscheiben. Also noch bevor die Bilder von den folternden GIs im irakischen Gefängnis Abu Ghraib an die Weltöffentlichkeit gelangten. Ebenso wie die US-Erfolgsserie 24 bereits im Februar des gleichen Jahres, greift ENT den US-Diskurs über die Legitimität von Folter zur Terrorabwehr auf, der weit bis in die Reihen der oppositionellen Demokraten reicht (vgl. Eyal Press: In Torture We Trust?). Mit weit reichenden Folgen: Die Folterer und ihre Vorgesetzten konnten sich im irakischen Abu Ghraib, im afghanischen Bagram oder im berüchtigten Camp X-Ray auf Guantánamo einer gewissen gesellschaftlichen Akzeptanz sicher sein.

Im weiteren Verlauf der Staffel spielt der (anti-) humanistische Tabubruch Archers in der Begegnung mit dem Bürgerkriegskommandanten D'Jamat in Das auserwählte Reich eine wichtige Rolle. D'Jamat kapert die Enterprise nach Hamas-Vorbild mit einem Selbstmordkommando. Er will das Schiff als mächtige Waffe einsetzen, um den Glaubenskrieg auf seinem Planeten Trianon endgültig für sich zu entscheiden. Darauf, wie schmal der beschrittene Grat zwischen Humanität und Barbarei tatsächlich ist, wird der Captain ausgerechnet von einem ausgemachten Wahrheitsfundamentalisten wie D'Jamat gestoßen, der sein barbarisches Handeln ebenfalls mit der Rettung seines Volkes legitimiert. Unter dem Ausnahmezustand des Krieges droht der Unterschied zwischen den Vorgehensweisen von Fundamentalisten und Linksliberalen bis zur Unkenntlichkeit zu verschwimmen: Beiden dient der Zweck dazu, die Mittel zu heiligen. Beide erkennen die Menschlichkeit ihrer Opfer zwar an, sehen diese jedoch vor dem jeweiligen Ziel ihrer Missionen außer Kraft gesetzt.

Um sich von dieser Umarmung zu befreien, geht Archer abermals bis zum Äußersten: Als D'Jamat für die Erforschung der mondgroßen Sonden, die die Ausdehnung beherrschen und die zentralen Kultobjekte im Glauben der Trianoner darstellen, Sühne im Form eines Menschenopfers verlangt, fällt Archers Wahl zum Schutz seiner Crewmen auf sich selbst. Auch wenn Archer dem Todesurteil mit einer List entgehen kann, seine Offerte war durchaus ernst gemeint. Denn dem Humanisten wird in der Anarchie des Kriegszustands nicht nur zugemutet, dem Gegner im Zweifel mit äußerster Härte entgegenzutreten, sondern ebenso sich und sein Leben dem Kriegsziel, die eigenen Leute zu schützen, in letzter Konsequenz unterzuordnen.

Echo der Schizophrenie: Archer als Kämpfer für das Völkerrecht.
Echo der Schizophrenie: Archer als Kämpfer für das Völkerrecht.
Dass diese politisch höchst prekäre Disposition durchaus traumatische Züge annehmen kann, wird in der Episode Brutstätte thematisiert. Die Enterprise stößt auf ein verunglücktes Schiff der Xindi-Insektoiden. Die Crew ist bereits tot, hatte jedoch zuvor die Restenergie zugunsten ihrer Nachkommenschaft auf die Bordbrutkammer umgeleitet. Ein Sekret in der Brutkammer infiziert Archer mit dem sprichwörtlichen Mutterinstinkt und entzieht den Captain der Logik des Krieges: Anstatt die Xindi-Eier ihrem Schicksal zu überlassen und weiter der Vernichtung des Planetenzerstörers entgegen zu eilen, setzt Archer alles auf eine sichere Geburt der kleinen Krabbelkäfer. Der Einspruch der Sternenflottencrew wird - interessanterweise im Gegensatz zu den loyal bleibenden MACOs - immer lauter. Für die orthodox-logisch geschulte T'Pol ist bald klar, dass der Captain nicht mehr Herr seiner Sinne sein kann. Trip ist dagegen zunächst hin und her gerissen. Umso mehr als ihm Archer mit einer Begebenheit aus den Eugenischen Kriegen daran erinnert, dass es selbst im Krieg Regeln zu beachten gelte. Die Folge endet zwiespältig: Als Trip schließlich als Spitze der Meuterei gegen Captain und MACOs seinem alten Freund gegenübertritt, den er mächtig überdreht zwischen dem schlüpfenden Nachwuchs vorfindet, zieht er am Abzug seines auf Betäubung gestellten Phasers. Kaum hat die NX-01 ihren Kurs mit einem geheilten Captain fortgesetzt, trifft ein Rettungsschiff der Insektoiden bei der Absturzstelle ein.

Das humanitäre Völkerrecht hallt aus der Vergangenheit wider, kommt in der Gegenwart als Echo der Schizophrenie an und wird für den gegnerischen Nachwuchs zur Rettung bis zur letzten Minute. Dem steht die Kriegslogik gegenüber, das Humanitätsgebot dem nackten Existenzkampf der eignen Lebensform zu opfern; an dieser Stelle von der Vulkanierin T'Pol verkörpert. Ein paranoider Zweckrationalismus, dem der Blick fürs Ganze abgeht. Das präföderale Subjekt wird in der Person von Archer zwischen humanistischer Überzeugung und der scheinbaren Alternativlosigkeit zur Barbarei aufgerieben. Unter derartigen Anforderungen muss es verrückt werden.

Dieses Motiv spielen Archer und T'Pol einige Male und mit wechselnden Rollen durch. T'Pol wird zur Drogenabhängigen nachdem ihre vulkanische Konditionierung durch eine Raumanomalie in Impulsiv geschwächt wurde und sie unbekannten Emotionen aussetzt. Dermaßen geschwächt stellt sie sich in Beschädigungen Archer erfolglos entgegen, der den Diebstahl der Warpgondeln der militärisch unterlegenen Illyrer befiehlt. Hier schließt sich der Kreis zu den Piraten aus Anomalie: Die präföderale Sternenflotte ist an diesem Punkt zum Ebenbild ihrer Gegner geworden.

Keine überzeugende Alternative im Angebot: Wahlkampfverlierer Kerry.
Keine überzeugende Alternative im Angebot: Wahlkampfverlierer Kerry.
Im widersprüchlichen Verhalten Archers, das zwischen zivil-polizeilichen Taktiken und plumper militärischer Reaktion hin und her eiert, scheinen deutliche Parallelen zum gescheiterten Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, Senator John F. Kerry auf. Die außenpolitischen Ansagen Kerrys blieben höchst widersprüchlich: In der "post 9/11 world" versprach er zwar seine oberste Priorität auf Kooperation und Einbindung setzen zu wollen, an zweiter Stelle rangiert jedoch sogleich die Modernisierung des Militärs (vgl. Kerry/Edwards: Our Plan for America, 10). Auch wenn er darunter vor allem den Ausbau von Einheiten versteht, die zur Friedenskonsolidierung ausgebildet und eingesetzt werden sollen, lässt der zweite Schwerpunkt, der quantitative Ausbau des stehenden Heeres, wenig Zweifel zurück: Vergleichbar mit Jacques Chirac, Gerhard Schröder und den anderen EU-Gegnern des Irakkrieges strebte zwar auch Kerry eine stärker zivil geprägte Strategie im "War on Terror" und der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen an. Ernstgemeinte Anzeichen für einen Transfer nationaler Macht zugunsten einer gestärkten UNO, unter deren Dach eine Perspektive der globalen Demilitarisierung eröffnet werden könnte, sucht man jenseits und diesseits des Atlantiks jedoch vergebens.

Verliert also der Captain Archer der dritten Staffel zu Recht an Quote wie Kerry das Weiße Haus weil es ihm nicht gelang, eine überzeugende Alternative zur neokonservativen Angstideologie der Bush-Administration zu entwickeln (vgl. Daniel Kothenschulte: Offene Improvisation)? Vorausgesetzt, es gibt ein Bedürfnis nach einer solchen Alternative in der Mediendemokratie der USA - wovon wir ausgehen, hätte zwar nicht die Archer-Figur an sich, sondern der Showdown der letzten sieben Folgen als Ganzes durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient.