Welchen Kurs nimmt Captain Archers Enterprise?

ENT QUO VADIS, Staffel 1: Eine Bestandsaufnahme

von Living Trekism

TV-Guide: Übernahme der Brücke.
TV-Guide: Übernahme der Brücke.
Im September 2001 ist die fünfte Star Trek-Serie Enterprise (ENT) in den USA angelaufen. Zwei Besonderheiten zeichnen die neue Show in Abgrenzung zu den bisherigen aus: Es handelt sich um eine Prequel und sie ist die erste, die auf das Label Star Trek verzichtet. Befürchtungen über einen Abschied von den typischen Merkmalen, die Star Trek-Erfinder Gene Roddenberry als Mindestanforderungen für Beiträge zum ST-Kosmos gesetzt hatte und die bisher stets für die hohe Qualität der ST-Fiction gesorgt hatten, haben sich seit Bekanntwerden der Produktionspläne vor allem im us-amerikanischen Fandom schnell verbreitet. Nunmehr wurde die erste Staffel der neuen Serie mit 26 Episoden auf UPN ausgestrahlt und über FileSharing-Netze mit Hilfe von Tools wie eDonkey nicht nur nach Europa weiterverbreitet. Auch die ersten deutschsprachig synchronisierten Episoden sind mittlerweile auf VHS-Video erschienen. Ob und wann Enterprise auch von Sat1 ausgestrahlt wird, steht nicht nur aufgrund der Kirch-Pleite noch in den Sternen.

Anlass genug, um Möglichkeiten und Schwächen des im 22. Jahrhundert angesiedelten Szenarios auszuloten und die bereits angedeuteten Entwicklungslinien in Richtung des bereits etablierten ST-Kosmos auszumachen. Letzteres wird innerhalb von Living Trekism vor allem in Form von Episode-Reviews verhandelt werden, während der Episode-Guide dazu dient, sich innerhalb der Serie zurechtzufinden. Dabei wird die Kenntnis der Episoden nicht zwingend vorausgesetzt, denn nicht zuletzt soll dieses Webangebot Lust darauf machen, sich auf das Abenteuer der Transformation einer rückständigen Welt zur Föderation der Planeten einzulassen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Es soll hier nicht darum gehen, das Erbe Gene Roddenberrys einfach zu konservieren oder als Hüter-Instanz des bereits Erreichten zu bewachen. Wir verstehen uns ebenfalls nicht als deutschsprachige Werbeagentur der Paramount Studios oder irgendwelcher Fernsehsender. Ob und wann ENT auch hierzulande kommerzielle Erfolge erzielen wird, davon sind wir als Trekker dank des planetarisch organisierten ST-Fandoms schlicht nicht abhängig. TransfictionTrek.Net macht sich stattdessen zur Aufgabe, einen Beitrag dazu zu leisten, der ST-Philosophy einen Weg in die nähere Zukunft zu bahnen. Eine Philosophie, die nicht nur Garant für den faszinierensten SF-Kosmos unserer Tage ist, sondern auch Möglichkeiten aufmacht, über die Probleme menschlicher Existenz am Anfang des 21. Jahrhunderts nachzudenken.

Eine Welt vor der Föderation

Das Ansehen der ersten Episoden von ENT versetzt routinierten Trekkerinnen einen tüchtigen Schock. Das Intro beginnt nicht mit der visionären Möglichkeit der Entdeckung neuer Welten und Zivilisationen, sondern mit einem rückwärts gewandten Zeitraffer der Entwicklung menschlicher Luft- und Raumfahrt, bis hin zum ersten interstellar (mhm, immerhin, denkt man sich) reisenden Schiff, der Enterprise NX-01. Untermalt wird das von einem Song in Stil des American-Mainstream der 80er Jahre. "Where My Heart Will Take Me" wird gesungen von Russell Watson, der sich einen Ruf als junger stimmkräftiger Opernsänger erworben hat, und ist auf dessen zweiten Album "Encore" zu hören. Geschrieben von Diane Warren, wurde der Song bereits 1998 von Rock-Röhre Rod Stewart (!) interpretiert; und so hört er sich auch an. Der Text bezieht sich zunächst ebenfalls eher auf vergangenes: "It's been a long road getting from there to here...".

Neue Crew, neue Subroutinen.
Neue Crew, neue Subroutinen.
Konfrontiert mit dem menschlichen Teil der Crew des neuen Schiffs, fühlt frau sich zunächst weiterhin in den 80ern kleben. Die sozialen Subroutinen der Crewmen wirken so, als ob die Scriptschreiber beim Entwurf eher an Filme wie Top Gun gedacht hätten, als an Star Trek. Ausgeliefert an diese Space-GIs, sehnt man sich förmlich nach Persönlichkeiten wie Tom und Harry, Neelix und Chakotay aus der Vorgängerserie ST-Voyager, jenen feministisch aufgeklärten smoothen Jungs mit angenehmen Umgangsformen. Weibliche Rollen gibt es nur wenige, und nachdem wir Cathren Janeway als Captain der Voyager erlebt haben, ist die schüchterne Sprachwissenschaftlerin Hoshi Sato doch eher als Rückentwicklung in Richtung der Original-Serie der 60er Jahre zu bewerten, als auf der Brücke ebenfalls im wesentlichen Jungs agierten. Genderpolitische Hoffnungen werden eher auf zwei Angehörige anderer Spezies übertragen, die ebenfalls Mitglieder der ersten Enterprise-Crew werden: die junge eigenwillige Vulkanierin T'Pol, die vom misstrauischen High Command der Vulkanier zunächst als eine Art Kontrollinstanz auf die Enterprise geschickt wird, um die interstellaren Frischlinge im Auge zu behalten. Sowie der aufgeschlossen-relaxte Doctor Phlox, ein Denobulaner, der an einem interstellaren medizinischen Austauschprogramm teilnimmt und sofort durch seinen ausgeprägten Humor und einen Akzent auffällt, der menschliche Ohren an britisches Englisch erinnert.

Definitiv zwei Anlässe zur Hoffung, aber trotzdem: die Rezeption gerät ins Stocken. Mit den Stories tauchen ähnliche Probleme auf: Die Prime Directive der Föderation der Planeten mit ihren komplexen Implikationen existiert schlichtweg noch nicht, und wenn man die ersten Episoden zur Grundlage nimmt, gibt es für Cpt. Archer und seine Crew noch viel zu tun und zu lernen, bis sie diese werden denken können. Die praktische Umsetzung der obersten Direktive stellte bisher noch jede Crew vor die Herausforderung, Entscheidungen nach bestimmten Kriterien treffen zu müssen, Fehler zu machen und sich mit der Unmöglichkeit, in bestimmten Situationen das Richtige tun zu können, auseinanderzusetzen. Und nicht zuletzt verhandeln genau diese Probleme die Unterschiedlichkeit von individuellen wie kollektiven Lebensformen. Dies zeugt von einer Vision, die Gene Roddenberry zu einer zentralen Eigenschaft des ST-Kosmos machte. Dem Entwurf einer Universalität von Gesellschaft, die nicht einige gleich macht um andere auszuschließen, sondern Differenz zum höchsten immateriellen Gut erhebt, das es zu entdecken und zu schätzen gilt. In den Worten Genes: "(...) to take a special delight in differences in ideas and differences in lifeforms". Eine Universalität also, die nicht einfach proklamierbar ist, sondern in jeder Situation erst in gegenseitigem Einverständnis hergestellt werden muss!

Der enge Horizont der Gegenwart

Organischer Pop-Intellektueller. Gene 1978 im Gespräch mit einem Fan.
Organischer Pop-Intellektueller. Gene 1978 im Gespräch mit einem Fan.
Diese Ansprüche scheinen viel von einer Space-Opera zu verlangen, sind aber unverzichtbar für eine ST-Serie, weil zentrale Elemente der Star Trek-Philosophy. Um einen Blick über den Horizont der Gegenwart hinaus werfen zu können, bedarf es zumindest einer Ahnung davon, wie es anders sein könnte. Und dafür einen fiktionalen Raum zu eröffnen, kann man wohl von einer SF-Serie auch dann verlangen, wenn sie "erst" Mitte des 22. Jahrhunderts spielt. Roddenberry hatte das drauf und wußte um Fähigkeit und Bedürfnis der Fangemeinde, über gegenwärtige Verhältnisse hinaus in eine fortgeschrittene Zukunft blicken zu können. In Star Trek kommen Visionen, Alltagsprobleme und Träume in Bewegung und werden auf eine so faszinierende Weise produktiv, dass ein internationales Fandom zum dynamischen Motor der ST-Philosophie geworden ist. Auf dem Stand dieser Entwicklungen kommt die neue Serie heraus und es stellt sich die Frage, ob sie dem gerecht werden kann.

Kehren wir zurück zur Situation Mitte des 22. Jahrhunderts, wie sie sich in ENT darstellt. Um an dieser Stelle nicht zuviel von den einzelnen Episoden der ersten Staffel zu verraten: Wir wollen nur das erzählen, was unbedingt notwendig ist, um ein Feeling für die Mission von ENT zu vermitteln. Eine Mission, die nach unserer Einschätzung absolut das Potential hat, der Serie einen wichtigen Platz im ST-Kosmos einzuspielen.

To boldly go... Cochrane-Video zum Enterprise-Start.
To boldly go... Cochrane-Video zum Enterprise-Start.
Seit Zefrem Cochrane 2061 mit dem Start des ersten von Menschen gebauten Warp-Schiffs die Aufmerksamkeit der Vulkanier auf sich gezogen hat [ST: Der erste Kontakt], sind 90 Jahre vergangen. Menschen und Vulkanier unterhalten inzwischen intensive diplomatische Beziehungen; von einer Föderation der Planeten ist allerdings noch nicht die Rede. Die technologisch schwer überlegenen Vulkanier betrachten die Menschen als übelriechende Fleischfresser, die weder ihre Emotionen vernünftig kontrollieren noch eine angemessene logische Kultur entwickelt haben. Intensive Beobachtung scheint daher angebrachter als umfassende Transfers von fortgeschrittener Technologie. Denn ihrer Überzeugung zufolge hat die Zivilisation auf der Erde noch nicht die Reife erreicht, um mit den daraus erwachsenen Möglichkeiten umgehen zu können. Von den Menschen wird diese Haltung als paternalistische Anmaßung empfunden. Die gefühlskalten Spitzohren scheinen aus dieser Perspektive streng nach starren und in ihrem Falle unangebrachten Prinzipien zu verfahren. Den Menschen macht die Dezentrierung ihres bisherigen Selbstbilds als 'Krone der Schöpfung' schwer zu schaffen. Der Captain des ersten menschlichen Schiffs, das mit seinem Warp-5-Antrieb dafür gebaut wurde, zu weit entfernten Welten zu reisen - Jonathan Archer - vertritt in typischer Weise die Ungeduld, mit der sich die Gründer der Sternenflotte bemühen, die als Fesseln empfundenen Vorbehalte der Vulkanier abzustreifen. Mit der Hypothek dieses Dauerkonflikts im Gepäck bricht die Enterprise NX-01 zur ersten umfangreichen Deep-Space-Exploration vom Planeten Erde auf [Aufbruch ins Unbekannte].

Eine Perspektive der Konstitution

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Captain Archer und Subcommander T'Pol diese Konfliktstellung geradezu idealtypisch verkörpern. So kann die Auseinandersetzung repräsentativ auf der Brücke der Enterprise ausgetragen werden - was auf Dauer auch nicht ohne Ergebnisse vonstatten geht.

In der 15. Episode gibt es endlich eine Gelegenheit, Geschlossenheit nach Außen zu zeigen; die Enterprise-Crew steht zu T'Pol und verteidigt sie gegen Anschuldigungen des vulkanischen High Command [Im Schatten von P'Jem].

Nach diesem Schlüsselerlebnis lockert sich die Athmosphäre der Zusammenarbeit auf der NX-01 zusehends - es entsteht gar eine Tendenz der Verselbständigung guter menschlich-vulkanischer Kooperation mit Auswirkung auf die interstellaren Beziehungen. Für Star Trek-Fans ist ein wichtiger Moment sicherlich die Entdeckung, dass nicht nur die menschlichen Fähigkeiten zu Diplomatie, Politik und Strategie im 22. Jahrhundert noch nicht den hohen Standard der zukünftigen Föderation der Planeten erreicht haben. Auch die Vulkanier können derart tapsig, ungeschickt und starren Prinzipien folgend agieren, dass sie an diesen scheitern. Mit dieser Blöße geben sie Archer & Co die Gelegenheit, ihrer Neugier auf andere Lebensformen entsprechend, ein erfolgsversprechenderes Agieren in die Tat umzusetzen [ebenfalls Im Schatten von P'Jem]. Dies sind nur zwei von vielen angelegten Entwicklungslinien, die in der ersten Season von Enterprise erkennbar werden. Es ist bereits offensichtlich, dass sich ähnliche Dinge auf sämtlichen Ebenen des sozialen Lebens gleichzeitig vollziehen müssen - von den Geschlechterrollen über die allgegenwärtigen Auseinandersetzungen um Anerkennung und Konsensbildung im Crew-Alltag, bis hin zur bereits in der Entstehung begriffenen Prime Directive. In den Episode Reviews werden wir dies ausführlich zur Diskussion stellen.

TV-Guide: Vulkanisch-menschliche Differenzen im 35. Star Trek-Jahr.
TV-Guide: Vulkanisch-menschliche Differenzen im 35. Star Trek-Jahr.
Unsere Einschätzung zum Zeitpunkt am Ende der ersten Season ist diese: Faszination und Groove im Sinne von Star Trek bekommt die neue Serie ab dem Zeitpunkt, an dem genau diese Möglichkeiten sichtbar zu werden beginnen.

Denn wenn es gelingen kann, einen Entwicklungspfad von einer Lebensrealität, die der unseren sehr nahe ist, zum bekannten Standard der Föderation aufzuzeigen, wenn die etwas rückständigen und reichlich untrekoiden Role-Models der Enterprise-Crew gerade deswegen, weil sie genau so sind, dazu taugen, einen Prozess der Konstitution föderaler Verhaltensweisen sichtbar zu machen, wenn der vergleichsweise langweilige Stand der interstellaren Beziehungen, wie er in ENT für die Mitte des 22. Jahrhunderts beschrieben ist, vor allem dazu benutzt wird, die ganz grundlegenden Entstehungsbedingungen für jede Coop verschiedener Lebensformen darzustellen, dann, ja dann hat das Produzententeam Rick Berman / Brannon Braga mit ihrem vielgescholtenen Prequel-Konzept für den Star Trek-Kosmos ein ungeheures Entwicklungspotential aufgetan. Dann wird Star Trek ab der ENT-Serie noch weniger Utopie und noch mehr performativer Eingriff in die aktuellen Verhältnisse sein als bisher sowieso schon. Living Trekism wird Verlauf und Richtung der Serie weiterhin aufmerksam verfolgen - stay tuned! (Mai 2002, LT)